Samstag, 4. April 2015

Tabgebücher des Victor Klemperer 1937-1939

"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten"

Einsamkeit, Depression und Perspektivlosigkeit bestimmen das Leben von Eva und Victor Klemperer in diesen Jahren. Die Judengesetze verbieten Victor Auto zu fahren und die Bibliothek zu nutzen, und auch ihr Haus werden er und seine Frau aufgeben müssen. Als aber im September 1939 der Krieg beginnt, und die lange Phase der Stagnation und Spekulation vorüber ist, gewinnt Klemperer neue Hoffnung auf einen Umbruch. Er sieht den Krieg als Chance, sein baldiges Ende ständig vor Augen.

Victor Klemperer-Denkmal in Halle (Quelle)



"Aber ich bin so unendlich deprimiert was die allgemeine Situation und meine Situation anlangt. Zumeist glaube ich, dass alles ungeschrieben bleibt, und dass nicht einmal mein 18. Jahrhundert fertig wird." (18.01.1937)
Von seinem "18. Jahrhundert" sagt Klemperer, es sei das beste Buch, das er je geschrieben habe, und doch wird es voraussichtlich niemand lesen werden. Auch brennt ihm das Verfassen seiner "Vita Mea" auf der Seele, er verspürt den Drang, sein leben aufzuschreiben, und in dieser unsicheren und hoffnungslosen Zeit seinem Leben einen Fortbestand zu geben.

  "So wird die Abgeschnittenheit jeden Tag schlimmer." (11.02.1937) 
Die Judengesetze verschärfen sich; für Arier wird es immer gefährlicher, Freundschaften mit Nichtariern zu pflegen. Viele Juden fliehen unterdessen ins Ausland in der Hoffnung auf ein neues Leben in Freiheit, nur Klepmerers bleiben zurück. Die Schlinge um ihren Hals zieht sich immer weiter zu, sie sehen sich von der Einsamkeit bedroht. Abende bei Freunden werden immer seltener, trotzdem bietet das Auto ihnen die Möglichkeit, Bekannte und Freunde zu besuchen, oder Fahrten in die umliegenden Gebiete mit ihnen zu unternehmen.

"Es ist trostlos, und doch bleibt mir nicht anderes übrig als meine Arbeit fortzusetzen, nun schon das fünfte Jahr, denn schon seit 33 sitze ich ja nun schon daran." (27.03.1937)
Klemperer will sein Meisterwerk nicht aufgeben - obwohl die politische Situation für die Sinnlosigkeit seiner Arbeit spricht.

"Der Messer zeigt jetzt 38000, im Herbst waren es 37000.  Für diese tausend Kilometer haben wir Hunderte an Steuern und Reparaturen gezahlt, und soviel Enge gelitten. Eigentlich eine Verrücktheit, und doch führen alle Erwägungen zum beibehalten und Durchhalten. Es ist im vollsten Wortsinn tragigkomisch. " (15.04.1937)
Der Wagen bleibt ihr ganzer Stolz, das letzte Bisschen Freiheit und Selbstbestimmung, das ihnen in diesen Zeiten bleibt. Doch der Zustand es Wagens bleibt trotz der ständigen Reparaturen desolat.
Es ist ein großer Widerspruch entgegen die Zeichen der Zeit: Klemperers leben in ihrem eigenen neuen Haus, besitzen sogar ein Auto; doch werden sie von ständigen Geldsorgen und Existenzangst erdrückt. Victor berietet es mittlerweile sogar eins schlechtes Gewissen, dass er Zigarillos statt den minimal billigeren Pfeifen raucht.

"Und bei all der Quälerei immer das Gefühl, wahrscheinlich für den Schreibtisch und die Würmer zu arbeiten. (....) Und an Krieg glaubt wohl auch keiner mehr; man ist zu gewohnt dass das Ausland alles hinnimmt." (02.06.1937)
Die politische Lage scheint still zu stehen - neben der ständigen Angst vor dem Krieg quält ihn immer wieder die Verzweiflung an seinem Werk, gefolgt von völliger Resignation. Enttäuscht von der Stagnation in der Weltpolitik und den innenpolitischen Geschehnissen, verliert Klemperer die Hoffnung mehr und mehr,

"Etwas findet sich immer, wenn man finden will. Und man will. (...) Ist es Stumpfsinn, Philosophie, Alter, oder ist es das Gefühl, in absolut regelloser Zeit zu leben? ich bin nur noch anfallweise bedrückt, lasse die Dinge im Übrigen laufen, und habe stundenweise ein ganz vergnügtes Lebensgefühl. Also jetzt wird unser Garten üppig. Wer wird um das Angst haben, was in vier Jahren geschieht? " (28.06.1937)
Die Juden sind der Willkür der Nationalsozialistischen Ordnung schutz- und rechtlos ausgeliefert. So werden Klemperers gezwungen, einen Gärtner zu beschäftigen, da sie ihren Garten auf Grund ihrer gesundheitlichen Probleme eine Zeit lang nicht pflegen konnten. Geld wird benötigt, das sie nicht haben; längst bekommen sie regelmäßige finanzielle Unterstützung von einem Freund im Ausland.


"Ohne jede geringste Übertreibung: Der Mann schreit mit überanstrengter Stimme wie ein besoffener verfolgungswahnsinniger Arbeiter. Dem Ton entspricht Wortwahl und Inhalt: Dies ist das größte Werk, das je vollbracht wurde (...) Die Mischung aus Würdelosigkeit, Größenwahn, ohnmächtiger Angst ist furchtbar. Furchtbarer nur, das sich Deutschland davon regieren lässt."(19.07.1937)
Klemperers Bild von Hitler aus der Sicht eines Philologen und Linguisten, vor allem aber aus der eines verängstigten und rechtlosen Juden, der sein Ende jeden Tag vor Augen hat.


"Die entsetzliche Stagnation der politischen Lage, das Lavieren Englands usw., nimmt mir alles Mut, ich glaube wieder mal, dass das Dritte Reich noch Jahrzehnte halten kann, und dass es wirklich dem Volkswillen und Volkscharakter Deutschlands entspricht, und in dieser Depression scheint mir mein Tun völlig zwecklos, und scheint es mir so völlig gleichgültig, ob bei meinem Tode ein paar Dutzend Manuskriptseiten mehr oder weniger herumliegen." (06.08.1937)
Das nationalsozialistische Regime ist gestützt auf den Willen der Bürger Deutschlands, zu denen Klemperer sich ausnahmslos gezählt hatte. Die Tatsache, dass die Grausamkeiten und das brutale Vorgehen gegen die Juden von den eigenen Landsmännern gewollt ist, enttäuscht Klemperer so sehr, dass er Depressionen und große Selbstzweifeln verfällt.

"Und immer mehr glaube ich, dass Hitler die Deutsche Volksseele verkörpert, dass er wirklich "Deutschland" bedeutet und dass er sich deshalb halten und zu Recht halten wird. Womit ich denn nicht nur äußerlich vaterlandslos geworden bin. Und auch wenn die Regierung einmal wechseln sollte: mein innerliches Zugehörigkeitsgefühl ist hin." (17.08.1937)  
Klemperer will sich nicht mehr zu einem Volk zugehörig nennen, das die Tyrannei und Schreckensherrschaft eines Einzelnen bestärkt.
Dabei die Paradoxie der nationalsozialistischen Ideologie: Vaterlandsliebe wird vom Regime verlangt, aber ihm als Juden die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft verwehrt.

"Und die Intelligenz und die Wissenschaft prostituiert sich." (12.09.1937)
Zeitung, Radio und Fernsehen propagieren ein ausnahmslos heroisches Bild vom neuen "Großdeutschland" und glorifizieren die Politik Hitlers. Zensur und Meinungsmache bestimmen nicht nur den Alltag, sondern sind längst auch in Bildung und intellektuellen Kreisen und angelangt.

"Aber der Mut sinkt immer tiefer, wie sich die Manuskriptblätter aufspeichern. Im Grunde ist das Ganze Selbstbetrug und Zeittotschlagen. In der gegenwärtigen Situation finde ich rein gar nichts, woran sich die Hoffnung auf einen Umschlag stützen ließe. Hitlers Rede in Nürnberg von der moralisch und geistig minderwertigen jüdischen Rasse - so dick mein Fell allmählich geworden und so wahnsinnig der Vorwurf (und die Behauptung des rein jüdischen Bolschewismus) ist, peinigt es mich doch, den Rest meines Lebens hier verbringen zu müssen. Und ich bin immer überzeugter, dass Hitler wahrhaftig der Sprecher so ziemlich aller Deutschen ist." (20.09.1937)
Der Glaube an die Sinnhaftigkeit seines "18.Jahrhunderts" schwindet fast endgültig dahin, und Klemperers Abneigung gegen Hitler wächst von Tag zu Tag.
Der hat sein Volk voll im Griff, und sichert sich durch Stimmungsmache und Wahlen, die nur den äußeren Anschein machen, geheim zu sein, seinen politischen Erfolg.

"So erlebt man Geschichte. Wie wissen vom Heute noch weniger als vom gestern und nicht mehr als vom Morgen." (11.09.1938) 
"Einen halben Tag lang meinte ich, nun müsste der Mut zum Selbstmord aufgebracht werden. Dann kam wieder das alte Zustand: Stumpfheit, Wartenwollen (...)" (02.10.1938) 
Zum ersten mal denkt Klemperer an Suizid, die Sinnlosigkeit seines dahin Lamentierens stürzt ihn immer tiefer in die Depression, und auch sein Herzleiden lässt ihn physisch und psychisch immer schwächer werden. Aber die Sorge um Eva überwiegt; er kann sie nicht allein zurücklassen, sie wäre finanziell ruiniert, würde seinen Tod nicht verkraften können.

"Seitdem peinigt uns beide unablässig die Frage: Gehen oder Bleiben? Zu früh gehen, zu lange bleiben? Wir bemühen uns immerfort, die subjektiven Gefühle des Ekels, des verletzten Stolzes, alles stimmungshafte auszuscheiden, und nur die Konkreta der Situation abzuwägen." (27.11.1938) 
Mit dem Hausbau haben Klemperers ihren Lebensabend in Dölzschen besiegelt, in dem kleinen Dorf eine Heimat gefunden. Nun zwingt sie die völlige Perspektivlosigkeit in Deutschland zu ernsthaften Überlegungen, ins Ausland zu emigrieren.
Außerdem verbietet ein neues Judengesetz das Autofahren; für Victor und Eva bedeutet das die völlige Gefangenschaft in der Enge der Ausweglosigkeit, hatten ihnen die Fahrten in ihrem Wagen doch immer wieder Ausflüchte aus dem eintönigen und erdrückenden Alltag ermöglicht. Auch wurde Klemperer ein absolutes Bilbliothekenverbot auferlegt, seine Schreibarbeit steht somit dem sicheren Ende bevor. Die Lage ist düsterer denn je, ihr Leben in Deutschland ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber ist es nicht schon zu spät für ein neue Existenz im Ausland...?

"Überall diese abscheuliche Hoffnungslosigkeit. Und ich glaube, bei den ausländischen Regierungen auch. Sie zittern alle, sie halten Hitler für unbesieglich - und deshalb ist er unbesieglich." (09.04.1939)
Die Notwendigkeit der Emigration, der Druck, Deutschland schnellstmöglich zu verlassen bevor der Radikalismus und Fatalismus sie unter sich begräbt, dazu die unbändige Machtdemonstration und Kriegsbereitschaft der Nationalsozialisten bereitet Eva und Victor große Sorgen und gesundheitliche Probleme. Doch es scheint, als gebe es auch im Ausland keine Möglichkeit auf eine bessere Zukunft, sie sind zu Abwarten und Arrangieren gezwungen. Unterdessen werden die Lebensmittel immer knapper, auch Lebensmittelkarten können die Versorgung nicht sichern. Klemperers befürchten, ihre Katze töten zu müssen, da das Fleisch für ihre Ernährung nicht mehr ausreicht.

"Wenn die Tür des Schlachthauses hinter unsereinem geschlossen ist, dann sind wir der übrigen Herde draußen gleichgültig. Hier liegt es umgekehrt: Wenn einer aus dem Schlachthaus heraus ist, dann fragt er nicht mehr nach denen drin." (03.05.1939)
Immer weniger Briefe von Freunden und Bekannten erreichen Klemperers, sie fühlen sich zunehmend einsam und zurückgelassen.

"Ich weiß nicht, ob die Zeit stillsteht oder fortschreited. Manchmal, eigentlich täglich, scheint es mir, diesmal renne er in sein Verderben." (07.06.1939)
Der Krieg steht kurz bevor, die Meinungen im Volk über Zeitpunkt, Anlass und Gegner gehen weit auseinander, niemand weiß so recht, welcher Theorie er Glauben schenken soll. Inmitten des politischen Wirrwars und der Radikalität der Judengesetze lebt Klemperer ohne jede Perspektive oder Hoffnung auf eine Zukunft dahin. Auch seinen Namen hat man ihm inzwischen genommen, er heißt jetzt Victor-Israel, um ihn in seiner jüdische Abstammung kenntlich zu machen.
Er versucht, nicht über die Sinnhaftigkeit seines Daseins und Arbeitens nachzudenken.

 "Absolutes Stillschweigen aller Angehörigen und Bekannten. Absolute Isolation." (20.06.1939)
Für ihre arischen Bekannten wird es zunehmend gefährlicher, den Kontakt zu Victor und auch Eva als arische Frau eines Juden zu halten. Jeder muss in diesen Tagen um das eigene Überleben sichern.
Ein naher Bekannter nimmt sich unterdessen das Leben.

"Alles in allem: Nachrichten und Maßnahmen ernst, Volksstimmung absolut siegesgemäß, zehntausendmal überheblicher als 14.Dies gibt entweder einen überwältigenden, fast kampflosen Sieg, und England und France sind kastrierte Kleinstaaten, oder aber eine Katastrophe, zehntausendmal schlimmer als 1918. Und wir mitteninne, hilflos und wahrscheinlich in beiden Fällen verloren...Und doch zwingen wir uns, und es gelingt auch auf Stunden, unseren Alltag weiterzuleben: vorlesen, essen (so gut es geht), schreiben, Garten. Aber im Hinlegen denke ich: Ob sie mich diese Nacht holen? Werde ich erschossen, komme ich ins Konzentrationslager? Das Warten im friedlichen, ganz weltabgeschiedenen Dölzschen ist besonders schlimm. Man achtet auf jeden Laut, auf jede Miene, auf alles. Man erfährt nichts. Man wartet auf die Zeitung und liest nichts heraus. Im Augenblick neige ich doch zu der Meinung, der Krieg mit den Großmächten kommt." (03.09.1939) 
Die politischen Ereignisse überschlagen sich im September '39, der 2.Weltkrieg beginnt. Klemperers wird angekündigt, ihr Haus bis zum April zu räumen. Ihr kleines Stückchen Zuversicht und Beständigkeit, für dessen Bau sie mit unbändigem Willen gekämpft haben, wird ihnen unter den Füßen weggerissen.
Allerdings empfängt Klemperer die Hiobsbotschaften, auch von Fahr- und Bibliotheksverbot, mit erschreckender Emotionslosigkeit und Resignation. Die Hoffnung auf die weitere Entwicklung der Ereignisse und das Ende des Nazi-Regimes lassen ihn auf eine positive Wendung vertrauen.

"Trotzdem ist diese Weihnacht nicht so trostlos wie die vorherige. Damals war Friede, der Westen schien endgiltig kapituliert zu haben, Hitler für unabsehbare Zeit gesichert zu sein. Und jetzt ist die Entscheidung im Gange und muss gegen Hitler fallen. Bleibt für uns nur noch die Frage des Wann. (24.12.1939) Wir sind diese Weihnacht und dieses Silvester entschieden in böserer Lager als voriges Jahr, die Fortnahme des Hauses droht. Trotzdem ist mir wohler zumut als damals; es herrscht jetzt Bewegung, und damals stagnierte alles. Ich bin jetzt überzeugt, dass der Nationalsozialismus im kommenden Jahr zusammenbricht. Vielleicht werfe ich dabei zugrunde gehen -er aber wird bestimmt enden, und mit ihm, so oder so, der Schrecken. Ob wir freilich das Haus und den Kater retten?  (...) Die Pogrome im November 1938 haben, glaube ich, weniger Eindruck auf das Volk gemacht als der Abstrich der Tafel Schokolade zu Weihnachten." (31.12.1939)

"Judengesetze":
02.07.37: Auslandspässe nur noch in Sozialfällen
26.04.38: Abgabe des Vermögens
30.04.38: jüdische Ärzte sind nur noch "Krankenbehandler"
12.11.38: Verbot des Betreibens von Geschäften & Handwerksbetrieben, Verbot von Theater-, Kino, Ausstellung-, Konzertbesuchen
15.11.38: jüdische Kinder werden aus Schulen entfernt
23.11.38;  jüdische Betriebe werden aufgelöst
28.11.38: Ausgangssperre & Wegbeschränkungen
03.12.38 Führerscheinentzug; Ablieferung von Schmuck & Wertpapieren
08.12-38: Verbot des Studiums an Universitäten
30.04.39 Wegfall des Mieterschutzes
01.09.39: Ausgangssperre ab 21.00
23.09.39: Abgabe von Rundfunkgeräten


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Mit besonderem Dank an Moppi Moopenheimer!

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